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Ist Bernried das typische Dorf?

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Wie typisch sind eigentlich meine Untersuchungsdörfer? Diese Frage stellt sich mir immer wieder – nicht nur in Bezug auf Bernried, sondern auch auf Wolxheim und Mahlow. Über die Repräsentativität meiner Fallstudien habe ich zu Beginn des Projektes viel nachgedacht, und ich müsste wohl auch hier mal darüber schreiben. So viel sei gespoilert: Eine klassische Repräsentativität im Sinne eines pars pro toto kann und will ich nicht erreichen. Deshalb sind „meine“ Dörfer auch keine Beispiele für die dörfliche Entwicklung meines Untersuchungsraums, sondern Fallstudien, die bestimmte Zusammenhänge besonders gut untersuchbar machen – andere dagegen vielleicht weniger.1

Das Problem der typischen oder untypischen Dörfer kann man aber auch noch von einer anderen Seite betrachten, und das betrifft in besonderem Maße Bernried, das malerische Kleinbauern- und Fischerdorf am Ufer des Starnberger Sees, das 2007 mit der Goldmedaille im Bundeswettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ ausgezeichnet wurde. Wurde und wird dieses Dorf als „typisches“ Dorf wahrgenommen und dargestellt? Und welche Wirkungen hat(te) das auf die Akteure, mit denen ich mich beschäftige? Dabei geht es also eher um die Zuschreibung „typisch/untypisch“ und ihre Wirkungen.

Zwei Beispiele für die (spätere) Zuschreibung des Typischen für Bernried habe ich heute mitgebracht. Vor einigen Jahren berichtete die Süddeutsche Zeitung ausführlich über Bernried, und zwar nicht, weil hier etwas Außergewöhnliches geschehen war, sondern weil Bernried so typisch sei. Kurz vor der bayerischen Kommunalwahl 2014 schrieb Sebastian Beck in der SZ:

Wer vor der Kommunalwahl wissen will, wie ein oberbayerisches Dorf funktioniert, der sollte sich in der kleinen Gemeinde am Starnberger See umschauen.2

Auf insgesamt vier Seiten breitete die Süddeutsche aus, wie Kommunalpolitik und Dorfleben funktionieren, am Beispiel von Bernried. Und immer wieder: Wie typisch das sei, und doch auch: wie gut es Bernried gehe, wie privilegiert das Dorf schon aufgrund seiner Lage sei. Diese Artikel sind durchaus instruktiv, nicht nur, weil sie einen interessanten Einblick in die gegenwärtigen kommunalen Angelegenheiten einer kleinen Gemeinde in Bayern geben, sondern eben auch, weil ich hier beobachten kann, wie das vermeintlich „Typische“ des oberbayerischen Dorfs dargestellt wird – der Hauptartikel dreht sich nicht umsonst um die „Stammtischpolitik“ im Gasthof Drei Rosen.

Und damit wären wir auch schon beim zweiten Fundstück, das ich heute präsentieren will. Ein ganz anderer Kontext, und doch taucht auch hier Bernried wieder als „typisches“ Dorf auf. Die Rede ist von einem Deutsch-Lehrbuch, offenbar für das Selbststudium, mit dem schönen Titel „Living German“.3 Zuerst erschienen ist es 1957, inzwischen in der überarbeiteten siebten Auflage von 2015. Und das erste Kapitel ist überschrieben mit: „Das Dorf Bernried“.

Hier ist das Dorf Bernried.
Bernried ist ein Dorf.
Ist Bernried ein Dorf?
Ja, es ist ein Dorf.
Das Dorf ist alt.

Zuerst dachte ich ja (und vor allem auch mein Kollege Jörn Retterath, der mich nicht nur auf das Buch aufmerksam gemacht hat, sondern mir auch Scans davon freundlicherweise zukommen ließ), es handle sich um ein Dorf, das gar nicht weiter individuell markiert sei, Bernried also nur mehr oder weniger zufällig als Name für das Beispieldorf in einer Deutschlektion gewählt worden sei. Aber tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass der Autor des Buches wirklich Bernried am Starnberger See als Beispiel vor Augen hatte. Denn:

Ist das eine Kirche?
Ja, es ist eine Kirche.
Das ist die Sankt Martinskirche.4
[…]
Das ist ein Gasthof.
Es ist der Gasthof „Drei Rosen“.5
Ist der Gasthof alt?
Ja, er ist alt, und er ist auch groß. […]

Was mache ich nun damit? Vielleicht erstmal nichts. Vielleicht freue ich mich erstmal über dieses wirklich tolle Fundstück. Und schreibe einen Blogartikel darüber. Aber über die Zuschreibung von „typisch“ und „untypisch“ muss ich wohl noch weiter nachdenken.

Empfohlene Zitation: Anette Schlimm, "Ist Bernried das typische Dorf?," in: Übergangsgesellschaften. Ländliche Politik in der europäischen Moderne – ein Forschungsprojekt, 20/07/2018, https://uegg.hypotheses.org/423.
  1. Pohlig, Matthias: Vom Besonderen zum Allgemeinen? Die Fallstudie als geschichtstheoretisches Problem, in: Historische Zeitschrift 297 (2013), Nr. 2, S. 297–319.
  2. Beck, Sebastian: 82347 Bernried, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 56 vom 8./9.3.2014, S. 35.
  3. Buckley, R.W.: Living German. A Grammar-based Course, rev. by Paul Coggle. 7., überarb. Aufl. Abingdon/London 2015 [EA 1957].
  4. St. Martin ist die ehemalige Klosterkirche in Bernried.
  5. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts existiert dieser Gasthof, seit 1912 unter diesem Namen.

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